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Freundschaft der Kirchen – Wege zum geeinten Europa

Unter dem Thema „Freundschaft der Kirchen – Wege zum geeinten Europa“ brachten Sr. Dr. Nicole Grochowina, Gerhard Proß und Herbert Lauenroth vom Koordinationsteam von MfE grundsätzliche Gedanken und konkrete Erfahrungen des Netzwerkes zur Freundschaft und als ein wesentliches Element der zukünftigen Kirche in das Podium ein, das von Sabine Krammel moderiert wurde und bei dem Jeppe Rasmussen als Anwalt des Publikums dafür sorgte, dass die Fragen des Publikums zu einem lebendigen Gespräch führten.

Wir dokumentieren hier den etwas ausführlicheren grundlegenden Beitrag von Sr. Dr. Nicole Grochowina unter dem Titel: „Freundschaft als Kategorie der Ökumene“.

Freunde miteinander unterwegs
Freunde miteinander unterwegs
Gerhard Proß, Sabine Krammel, Sr. Dr. Nicole Grochowina, Herbert Lauenroth
Gerhard Proß, Sabine Krammel, Sr. Dr. Nicole Grochowina, Herbert Lauenroth
Sr. Dr. Nicole Grochowina, Christusbruderschaft Selbitz
Sr. Dr. Nicole Grochowina, Christusbruderschaft Selbitz
Herbert Lauenroth
Herbert Lauenroth

Freundschaft als Kategorie der Ökumene

Sr. PD Dr. Nicole Grochowina

Die Basis aller Geschwisterlichkeit ist es, „dass wir freudig akzeptieren, dass kein Volk, keine Kultur oder Person sich selbst genügen kann.“ So hält es Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ fest. Ihm geht es um eine „Kultur der Geschwisterlichkeit“, an die er den Begriff der Freundschaft eng anbindet, denn, so der Papst: Eine universale Geschwisterlichkeit braucht in ihrem Inneren die Freundschaft, will heißen: Geschwisterlichkeit basiert auf einer „Kultur der Begegnung“ – und diese wiederum basiert auf dem, was eine Freundschaft ausmacht, nämlich die Grundannahme, dass niemand sich selbst genügt und niemand sich selbst genügen kann.

Mit der „Kultur der Geschwisterlichkeit“ verbindet Papst Franziskus die große Hoffnung, „persönliche Bequemlichkeit“ hinter sich zu lassen, den Horizont zu weiten und sich so „großen Idealen zu öffnen, die das Leben schöner und würdiger machen.“ Dieser Hoffnung zu folgen und für eine „Kultur der Geschwisterlichkeit“ alles einzusetzen, habe große Folgen, denn Gemeinschaft zu wagen und Netzwerke der Solidarität aufzubauen, verändere nichts weniger als die gesamte Weltordnung.

Geschwisterlichkeit also – und gleichzeitig: Freundschaft als ihr inneres Geschehen. Dies kann nicht groß genug gedacht werden, so dass die Rolle und die Aufgabe der Freundschaft auf allen Ebenen zu betonen ist: in einzelnen Beziehungen, aber auch im Miteinander der Kirche und selbst im Miteinander der Nationen. Freundschaft also als Schlüssel, als Wegbereiter für Versöhnung, für Einheit und letzten Endes für eine „Kultur der Geschwisterlichkeit“, die unserer Welt nicht nur gut ansteht, sondern von ihr auch dringend benötigt wird.

Reden wir also über Freundschaft. Was ist damit gemeint? Die Antwort in knapper Form lautet: Der Schlüssel ist, an der Idee der Gottesfreundschaft Maß zu nehmen – also an der Idee von Freundschaft, die von Gott her erkennbar wird.

Vermutlich haben wir alle eine Idee davon, was ein „guter Freund“ ist: Freunde sind die Menschen, mit denen wir Pferde stehlen könnten. Es sind Menschen, die da sind, wenn nichts im Leben mehr sicher erscheint; die sagen, was wir hören müssen und nicht das, was wir hören wollen; es sind Menschen, die uns helfen, uns selbst zu begreifen. Kurzum: Freunde sind Menschen, an die wir denken, wenn wir vom Glück der Freundschaft sprechen.

Nicht umsonst also benennt Papst Franziskus die Freundschaft als das Innere der Geschwisterlichkeit – und doch braucht eben dieser Begriff der Freundschaft eine gemeinsame Ausrichtung jenseits der Sympathie, um Geschwisterlichkeit zu tragen. Reden wir also über Gottesfreundschaft und damit über die fundamentale Befreundung, die von Gott ausgeht und uns Menschen meint. Sie ist der Kern der Freundschaft, die Ökumene und Welt zu gestalten vermag.

Der Blick auf die biblische Botschaft zeigt: Ein solcher Freundschaftsbegriff taucht nur sehr dosiert auf – dann aber entfaltet er große Kraft. Mose und Abraham werden klar und deutlich als solche "Freunde Gottes" bezeichnet, und diese Freundschaft ist dann besonders. Mose etwa erlebt, dass Gott ihm entgegenkommt und mit ihm redet, wie Freunde miteinander reden. Das heißt, sie reden von Angesicht zu Angesicht und verbergen nichts voreinander. Mose hat diese Freundschaft nicht gesucht, sie ereilt ihn, sie schockiert ihn, der „Ich bin, der ich bin“ kommt in sein Leben als Widerfahrnis.

Bemerkenswert ist auch: Ungeachtet der besonderen Beziehung zwischen Gott und Mose bleiben beide, wer sie sind. Gott bleibt Gott und Mose bleibt weiterhin Mose. Die hier beschriebene besondere Freundschaft hindert beide also nicht daran, auf Augenhöhe zu agieren und dabei die klare Hierarchie zwischen sich zu wahren, die Gott als Schöpfer kennzeichnet und Mose als Gottes Geschöpf wertschätzt. Gleichwohl ist bereits hier anzufügen, dass dies die einzige Asymmetrie in der Freundschaft ist – und das heißt: Sie gilt zwischen Gott und Mensch, nicht aber zwischen Menschen oder Kirchen, die an dieser Freundschaft Maß nehmen. Würde sich diese Asymmetrie auch hier gelten, hieße dies, Berufungen, Lebensformen, Dasein zu gewichten. Dies jedoch steht uns Menschen in dieser Tiefe nicht zu. Wir alle sind vielmehr gleichermaßen diejenigen, mit denen sich Gott befreundet.

Zweites Beispiel: Abraham. Hier blitzt ein weiterer Aspekt auf: In Gen 18, 17 stellt Gott die fast rhetorische Frage: "Soll ich Abraham verheimlichen, was ich vorhabe zu tun?" Die Antwort lautet natürlich "nein", denn Gott verbirgt nichts vor seinem Freund – und erzählt Abraham folglich, was mit Sodom und Gomorra geschehen würde, bevor er Abraham die Chance einräumt, genau darüber zu verhandeln, um eben diese Städte vor der Zerstörung zu retten.

Sowohl Mose als auch Abraham antworten auf die Gottesfreundschaft – und sie tun dies mit ihrer je eigenen brüchigen und angefochtenen Hingabe. Der Eine ist bereit, über seinen riesigen Schatten zu springen und als schwacher Redner und ewig Ringender dem Volk voranzugehen und es zum gelobten Land zu führen – ohne dieses jemals selbst zu betreten. Der Andere ist bereit, seinen Sohn zu opfern; meint es also auch sehr ernst mit seinem Verschenken. Unbedingte Hingabe mit allen dazugehörigen Herausforderungen ist also die Antwort auf Gottes Angebot, mit ihnen wie mit einem Freund unterwegs zu sein.

Es lässt sich also feststellen, dass das Handeln auf Augenhöhe und das unbedingte Teilen zu den wichtigsten Aspekten der Freundschaft gehören, die von Gott ausgeht und den Menschen und damit die ganze Welt verwandeln wird. Und mehr noch: Diese Freundschaft macht auch etwas von dem sichtbar, was Gott in einer bestimmten Zeitspanne beispielhaft zeigen wollte und will. Es ist also – und dies ist sehr wichtig – davon auszugehen, dass Gott dieses Freundschaftsangebot nicht zufällig macht, sondern genau dies will – und zwar in seiner vollen lebensdienlichen Funktion.

Auf dem Weg zur Geschwisterlichkeit in Kirche und Welt geht es um genau diese Gottesfreundschaft – um das Maßnehmen daran. Der Mittler, der Übersetzer hierfür ist für Christinnen und Christen der Mensch und Gottessohn Jesus Christus. Das Johannesevangelium erzählt davon, dass ER das umsetzt, was Gott gegenüber Mose und Abraham auch gelebt hat: rückhaltlose Selbstmitteilung, Beziehung der Gleichheit bei Wahrung der Identität – doch dazu legt Jesus die vordergründige Aufhebung der Asymmetrie, weil er auf unserer Seite der Ewigkeit nicht nur wahrer Gott, sondern eben auch wahrer Mensch ist. Dazu addiert ER den Grenzfall aller Freundschaft, die Lebenshingabe für die Freunde. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ So ist es in den Ostertagen geschehen. Und so ist es sicher auch kein Zufall, dass im Johannesevangelium gerade dieses Ereignis maximaler Hingabe der Ort ist, an dem die Jünger aufgerufen werden, einander Freude zu sein. „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben“, so hören sie es von Jesus, der damit wohl mehr als die Fußwaschung meint.

Was die Bibel beschreibt, sind erst einmal individuelle Freundschaftsgeschichten: Gott und Mose oder Abraham, Jesus und die Jünger, aber auch Jonathan und David und andere. Es sind Geschichten davon, dass das Brückenbauen gelingt – weil Gott es so will und sich zuerst befreundet.

Wichtig ist also der Überschritt. Das heißt: Freundschaft darf nicht bei Einzelnen stehenbleiben, sondern: Hier Maß zu nehmen am Maßgebenden, ist die Aufgabe der gesamten Kirche. Wenn also die Kirche – und damit wir alle in allen Konfessionen – eine Solidargemeinschaft der Gottesfreunde ist, die allesamt auf das Freundschaftsangebot Gottes reagieren, dann ist damit ihre Aufgabe klar beschrieben: Sie hat sich immer zu fragen, ob ihr Sein, Handeln, ihre Theologie, ihr Miteinander ein Ausdruck dieser einschließenden und von Liebe genährten Gottesfreundschaft ist. Klar ist: Dies ist ein Weg, der nicht ohne Anfechtung und Läuterung auskommt; es ist ein Weg, der es braucht, Schuld einzugestehen und so „healing of memories“ zu ermöglichen, aber es ist zugleich auch ein Weg, der aus dem Wissen lebt, das Gott den Rahmen der Freundschaft gesetzt und in Christus besiegelt hat. Freundschaft um Gottes willen kann also nicht fehlgehen; Ökumene in dieser Spur kann nicht fehlgehen. Das heißt: Auch Geschwisterlichkeit ist nun kaum mehr Wagnis, sondern vielmehr eine Konsequenz aus der je eigenen Gottesfreundschaft. Dies wiederum zeigt: Freundschaft ist einer wichtigen, wenn nicht gar: die wichtigste Kategorie der Ökumene, wenn sie in ihrer Ausrichtung, ihrer Tiefe und ihrer Hingabe am Maßgebenden Maß nimmt, nämlich an Gott selbst.